Konstruktive Kritik
Gerhard Etzel

Ein kleine Geschichte zum Nachdenken.
Von Buchautor und mib Mitglied Gerhard Etzel




Neulich saß ich auf der Terrasse, das Notebook auf den Knien, und quälte mich durch meine letzten, ausnahmslos misslungenen Entwürfe für neue Glossen zum Thema »Führung und Kommunikation«. Es wollte mir einfach nichts Gescheites einfallen. Vom Nebenhaus her hörte ich seit einigen Minuten lautes Hämmern, das meine Kreativität auch nicht förderte. Plötzlich wurde dieses Klopfen vom lauten Geschrei der Nachbarin übertönt.

»Sag mal spinnst Du? Was machst Du denn da?«

Froh über die Unterbrechung meines ohnehin versiegenden Gedankenflusses und in Erwartung eines unterhaltsamen und spannenden Beispiels aus »Szenen einer Ehe« stand ich auf und spähte über die Büsche. Da thronte der Nachbar auf einer Leiter und Hämmerte große Nägel in die Holzverschalung des Obergeschosses.

»Ich hänge die Lichterkette für das Gartenfest auf, das wolltest Du doch«, entgegnete er seiner Frau zwischen zwei Schlägen auf einen Nagel. »Mein Gott, aber doch nicht so idiotisch. Hast Du keine Augen im Kopf? An der Stelle sieht man die ja gar nicht. Du kannst wohl überhaupt nichts richtig machen.«

Nun war auch mein sonst so friedliebender Nachbar aufgebracht. »Was heißt da idiotisch? Wie redest Du mit mir?« »Deutlich, sonst verstehst Du ja nichts«, giftete seine Frau zurück. Da holte der Nachbar mit dem Hammer aus und schlug wütend zu. Der getroffene Nagel verschwand bis zum Anschlag im Holz. »Dann mach Deinen Sch… doch selbst«, blaffte er noch, stieg von der Leiter und verschwand im Haus. Wahrscheinlich würde er sich jetzt ein beruhigendes Bierchen gönnen.

Ich ging nachdenklich zu meinem Notebook zurück und tippte den gerade gehörten Dialog in mein Notebook. Darunter schrieb ich dann eine Fassung des Dialogs, wie ich ihn mir gewünscht hätte, wäre ich auf der Leiter gestanden und hätte die Lichterkette aufhängen sollen. Das Dokument schickte ich per W-LAN an den Drucker. Dann holte ich das Blatt, rief die Nachbarin an den Zaun und gab es ihr.

»Das habe ich gerade geschrieben. Lies das bitte mal und sage mir, wie Du das findest«, erklärte ich. Sie las den ersten teil und kommentierte: »Ich habe mich halt geärgert, da rutscht einem sowas schon mal raus.« Dann las sie weiter:

SIE: »Halt, Heinrich, was machst Du denn da?«
ER: »Ich hänge die Lichterkette für das Gartenfest auf, das wolltest Du doch«
SIE: »An der Stelle sieht man die doch nicht richtig. Ich würde sie wo anders aufhängen«.
ER: »Was schlägst Du vor?«
SIE: »Weiter vorne, unter dem Balkon an der Terrasse.«
ER: »OK, mache ich, wahrscheinlich ist das wirklich der bessere Ort.«

Die Nachbarin sah mich an. »Ich war wohl ziemlich destruktiv«, seufzte sie. Ich bestätigte ihr, dass ich das so empfunden hätte. Sie antwortete »Deine Variante ist wirklich konstruktiver, aber ich bin nicht sicher, dass es so positiv geendet hätte.« Das konnte ich natürlich wirklich nicht garantieren, betonte aber, dass so zumindest eine große Chance dafür bestanden hätte.

Wir bedanken uns bei Herrn Etzel, dass wir seine Kurzgeschichte hier veröffentlichen dürfen. Wer Lust auf mehr von ihm hat, klickt hier ...